Das Klarinettenquintett Souvenirs de voyage (1967) von Bernard Herrmann beginnt mit derselben Melodie, die er bereits ein Jahrzehnt zuvor im wohl bekanntesten Stück (scene d’amour) aus seinem Soundtrack für Hitchcocks Vertigo (1958) verwendet hatte. Hierbei handelt es sich um ein schönes Beispiel für Verlagerung, um das Heraustrennen eines Elements (in diesem Fall eine Melodie) aus seinem Kontext und das Hineinsetzen in einen anderen Kontext, in dem es anderen Gegebenheiten und Logiken unterworfen ist. Im besagten Fall ist dieselbe Melodie zunächst (in Vertigo) die Eröffnung eines Motivs, das sich unerbittlich in ein Romantik-Crescendo entwickelt und dabei erkennbar auf Wagners Tristan aufbaut. Die Wiederaufnahme im Quintett hingegen verbleibt strikt im Stil einer Prä-Wagner-Epoche, mit einem Grundthema und seinen Variationen. Das überraschende Moment ist hier die regressive Ausrichtung dieser Verschiebung: Erst gibt es einen Ansatz der Romantik mit seinem sich steigernden Crescendo, und später dann den Schritt zurück in eine vorklassische Zeit, in der solche Crescendi nicht existieren.
Der Begriff der Verlagerung ist ein wichtiges dialektisches Konzept, dessen richtige Anwendung es ermöglicht, einige Missverständnisse in Bezug auf Hegels Begriff der Aufhebung auszuräumen. Sehen wir uns ein anderes Beispiel aus dem Bereich Dekolonisierung an. Jean Casimir widerspricht in The Haitians: A Decolonial History der Ansicht, dass die Revolution in Haiti die tatsächliche Verwirklichung der Ideale der Französischen Revolution darstellt: Das Beispiel Haiti verlagere “das Projekt der Moderne, anstatt es zu vollenden.” Casimirs Kritik richtet sich an all diejenigen (mich eingeschlossen), die in der Haitianischen Revolution die Universalisierung und Radikalisierung der Französischen Revolution sehen: Erst durch ihre Wiederholung in Haiti werde die Französische Revolution wirklich zu einem weltgeschichtlichen Ereignis mit universeller Bedeutung. In diesem Sinne ist die Haitianische Revolution die Aufhebung der Französischen Revolution: eine umfassende Realisierung ihres Potenzials, eine Wiederholung auf höherer Ebene. Aus der Sicht des vorherrschenden postkolonialen Denkens ist eine solche Sichtweise hingegen zu “eurozentrisch”: Wenn die Haitianische Revolution auf die reine Anwendung der immanenten Potenziale der Französischen Revolution reduziert wird, dann ist – um es mit Hegel zu sagen – das europäische Phänomen Französische Revolution der übergreifende Ausdruck und Begriff, und die Haitianische Revolution bleibt ein untergeordnetes Moment ihrer Anwendung selbst. Anders gesagt: Selbst wenn die Haitianer*innen eigentlich “französischer als die Franzosen” waren, selbst wenn sie weiter gingen und konsequenter waren als ihre Gegenparts in Frankreich, so waren sie dennoch Teil eines europäischen dynamischen Prozesses.
Verlagerung bedeutet im Gegensatz dazu, dass Elemente völlig neu kontextualisiert, in einen neuen symbolischen und sozialen Raum integriert werden, der ihnen eine neue Bedeutung verleiht, die nichts mit der ursprünglichen Bedeutung zu tun hat. Man kann diese neue Bedeutung keineswegs von der ursprünglichen “ableiten”. Nehmen wir Gleichheit oder Gleichstellung, ein Begriff, der aus dem modernen europäischen Denken stammt. Viele Befürworter*innen der Gleichstellung haben dafür gearbeitet, diesen Begriff auf Frauen, andere Ethnien usw. auszudehnen. Doch auch eine solche Ausweitung bleibt im Rahmen des westlichen Begriffs “Gleichheit/Gleichstellung”. Wenn jedoch ein Mensch, der wirklich anders oder fremd ist (ein Schwarzer Sklave, beispielsweise), Gleichstellung erringt, wird der Begriff nicht nur ausgeweitet, sondern auf einen komplett anderen Bereich verlagert, was die tatsächliche Funktion radikal beeinflusst – das Unbehagen gegenüber der Black Lives Matter-Bewegung zeigt dies überdeutlich. Darüber hinaus: ist nicht die gesamte Geschichte des Marxismus und der kommunistischen Revolutionen eine Geschichte der Verlagerungen? Trotz seiner zahlreichen Marx-Zitate verlagert Lenin Marx in eine radikal andere historische Realität. Eine Realität, in der die Revolution von einer kleinen Partei durchgeführt und letztlich durch die Inangriffnahme nicht-proletarischer Themen (nämlich Land und Frieden) gewonnen wird. Mao Zedong tat etwas noch Radikaleres: Entgegen der Vorstellung von Marx und Engels sah er nicht die Arbeiter*innen, sondern die Bäuer*innen auf dem Land als die wahre revolutionäre Kraft an – etwas, das für Marx und Engels unvorstellbar gewesen wäre. Auch in diesen beiden Fällen geht es nicht um eine kontinuierliche Erweiterung, sondern um eine radikale Verlagerung des Vorhergegangenen. Es ist daher kein Wunder, dass sich in beiden Fällen orthodoxe Marxist*innen gegen die Neuausrichtung wehrten (der Hauptvorwurf der Menschewiki an Lenin war, dass er in nicht-marxistischer Weise eine Revolution auslösen wollte, bevor die Zeit dafür tatsächlich reif sei).
Wir sollten nicht vergessen, dass auch der Kapitalismus als solcher ein Prozess ständiger Verlagerungen ist. Der Kapitalismus hat seinen Ursprung in Europa, sich dann aber allmählich zu einer globalen Wirtschaftsordnung entwickelt. Diese Expansion war nicht kontinuierlich, sondern mit radikalen Verlagerungen und Verwerfungen verbunden. So ging der Kapitalismus nicht nur von Anfang an mit Kolonialisierung und Sklaverei einher, sondern er veränderte sich auch durch den Aufstieg starker nicht-europäischer kapitalistischer Staaten wie Japan, Indien und nun China. Es ist übrigens interessant zu beobachten, wie dieselben Vertreter*innen der postkolonialen Linken, die jede Ausbreitung von Gleichheit und Demokratie als Verlagerung und nicht als kontinuierliche Entwicklung abtun, stets darauf beharren, dass der Kapitalismus “eurozentrisch” ist und ausschließlich Europa zugeschrieben werden sollte: Der Kapitalismus ist und bleibt europäisch, auch wenn er in China, Indien usw. auftritt. Die zugrundeliegende Prämisse ist klar: Wenn progressive Ideen wie Gleichstellung und Demokratie auf die Dritte Welt übergreifen, bedeutet dies eine radikale Verlagerung und ist nicht mehr europäisch; im Gegensatz dazu bleibt der “schlechte” Kapitalismus ein fremder (also europäischer) Eindringling… Dieser Fehler ist schwerwiegend, denn er übersieht die entscheidende Tatsache, dass der Kapitalismus eigentlich universell, kulturübergreifend und tatsächlich absolut gleichgültig gegenüber einzelnen Kulturen ist: Er wird nicht aus der einen Kultur verlagert und dann von einer anderen vereinnahmt/übernommen, sondern er steht für eine universelle Verlagerung aus dem kulturellen Raum an sich heraus.
Kommen wir zurück zur Beziehung zwischen Hegels Aufhebung und Verlagerung: ein Ansatz, der die beiden gegenüberstellt (wie Casimir beim Thema Haiti), übersieht ein wesentliches Merkmal des Hegelschen dialektischen Prozesses. Er reduziert das Subjekt auf eine dynamisierte Substanz. Die Kritiker*innen lehnen die Hegelsche Vorstellung von Demokratie-und-Gleichstellung als eine allumfassende substanzielle Einheit, die nach und nach ihre immanenten Potenziale entfaltet und aktualisiert, indem sie von einer bestimmten Form zu einer anderen übergeht, aber immer derselbe Hintergrund des gesamten Prozesses bleibt, ab. Nehmen wir an, ein Staat durchläuft die Stadien des asiatischen despotischen Staates, dann der antiken Sklavenhalterdemokratie, der feudalen Monarchie, des modernen autoritären Staates usw.: all diese sind demnach besondere Gebilde, die sich als jeweils immanente Ausprägung desselben Staatsbegriffs erweisen. Aber ist dies tatsächlich der Fall? Wenn wir auf dieser abstrakten Ebene bleiben, müssen wir mindestens zwei Punkte hinzufügen. Erstens impliziert für Hegel die vollkommene Vollendung einer Idee (sprich: wenn die Realität genau der Idee entspricht) immer die Selbstverneinung dieser Idee selbst. Das bedeutet: Die Realität eines Staat entspricht niemals vollständig der Idee des Staates – wenn dies geschieht, können wir nicht mehr von einem Staat sprechen, sondern gehen in eine Art Glaubensgemeinschaft über.
Zweitens, und das ist noch wichtiger, wird in einem dialektischen Prozess das Prädikat immer zum Subjekt: was zu Beginn ein untergeordnetes Moment des Prozesses war, behauptet sich als dessen Subjekt und setzt die Voraussetzungen rückwirkend als seine eigenen Momente (“Prädikate”) voraus. Es ist also nicht dasselbe Subjekt, das von einer bestimmten Form zu einer anderen übergeht, sondern es bleibt derselbe Akteur, der die Fäden zieht und die gesamte Entwicklung kontrolliert. Was Hegel das “Absolute” nennt, ist genau der Prozess, in dem radikale Wendungen stattfinden und ein Prädikat sich in ein neues Subjekt verwandelt. Jede dialektische Übergangsphase ist somit eine Art von Verlagerung: die vorherige Substanz wird in eine neue, umfassende Universalität verschoben bzw. verlagert. Es ist hierbei nicht ein- und dieselbe Universalität, die von einer bestimmten Form in eine andere übergeht – in jeder Übergangsphase wird die Universalität selbst verlagert, sie wird somit auf ein untergeordnetes Moment einer neuen Universalität reduziert. Nehmen wir den Übergang von Geld zu Kapital wie von Marx beschrieben: In einer vorkapitalistischen Marktgesellschaft ist Geld lediglich ein Medium für den Austausch zwischen Produzenten, das im Endergebnis verschwindet (ich verkaufe, was ich produziert habe und kaufe [mit dem eingenommenen Geld], was ich brauche). Im Kapitalismus jedoch wird das Geld zu Kapital, zum tatsächlichen Subjekt (oder aktiven Treiber) des gesamten Prozesses. Von meinem individuellen Standpunkt aus gesehen, produziere (und verkaufe) ich nach wie vor Dinge, damit ich andere Dinge bekomme, die ich für mein Leben brauche (oder wünsche). Aber im Kapitalismus ist das wahre Ziel des gesamten Prozesses die expandierende Selbstreproduktion des Kapitals selbst: Meine Bedürfnisse und ihre Befriedigung sind nur untergeordnete Momente der Selbstreproduktion des Kapitals. In diesem Sinne wird die soziale Produktion radikal verlagert und auf ein untergeordnetes Moment der Reproduktion des Kapitals reduziert.
Doch zurück zu Haiti. Was die Sache noch komplizierter macht, ist die Tatsache, dass das Spannungsverhältnis zwischen einer Imitation Europas und einem Ausbruch aus der europäischen Moderne in das Wesen des revolutionären Prozesses selbst eingeschrieben ist. Toussaint Louverture, der erste Anführer des freien Haiti, betonte die Gleichheit aller Ethnien und lehnte jegliche Privilegierung der Schwarzen ab. Zwar schaffte er die Sklaverei formell ab, führte gleichzeitig jedoch eine Arbeitspflicht ein (die Plantagenarbeiter*innen mussten an ihrem Arbeitsort bleiben, damit die Produktion weiterlief). Die beiden Anführer, die nach ihm kamen, Dessalines und Christophe, verfolgten hingegen eine “anti-weiße” Wende (sprich: alle Nicht-Schwarzen mit Ausnahme der Polen, die die Revolution unterstützt hatten, wurden massakriert). Die Arbeitspflicht blieb jedoch weiterhin bestehen, so dass sich für die Ex-Sklav*innen nicht viel änderte. Während Christophes Herrschaft war Haiti in zwei Staaten geteilt: Christophe regierte als König den Nordteil, Alexandre Pétion die Republik im Süden. Während sich der Norden zu einer halb-feudalen, autoritären Imitation eines modernen europäischen Staates entwickelte, der sich auf die Steigerung von Produktion und Reichtum (konzentriert in den Händen der herrschenden schwarzen Elite) konzentrierte, wurde in der Republik im Süden Land an Kleinbäuer*innen verteilt, die in einer Subsistenzwirtschaft mit geringer Produktivität (über-)lebten. Zwar feiern Einige den Süden deshalb als einen Versuch, neue gemeinschaftliche Lebensformen als Alternative zur europäischen Moderne zu entwickeln, doch das Experiment scheiterte recht bald. Ein weiteres Paradoxon ist, dass der Übergang von einer Gleichstellung der Ethnien zu einer Vorherrschaft der Schwarzen, die mit Dessalines eintrat, mit dem Entstehen einer autoritären Klassenstruktur zusammenfiel – einer Struktur mit dem König an der Spitze. Somit wurden die schlimmsten Aspekte der europäischen autoritären Moderne imitiert.
Ähnliche Paradoxien gibt es im Fall von Paraguay: Bevor es durch die spanisch-portugiesische Intervention zerstört wurde, war Paraguay unter der Herrschaft des Jesuitenordens (der indigene Stämme in sogenannten reducciones [Missionen] organisierte) nicht nur eine frühe Form des Kommunismus, sondern auch einer kulturellen Unabhängigkeit wesentlich näher als Argentinien oder Brasilien: Die Jesuiten druckten bereits Bücher in der Sprache Guarani, die noch heute von einer Mehrheit der Menschen in Paraguay beherrscht und gesprochen wird. Wären die Jesuiten nicht vertrieben worden, hätte die Geschichte Lateinamerikas eine andere Wendung genommen und die Sprache der indigenen Bevölkerung wäre eine der offiziellen Staatssprachen geworden. In der modernen Geschichte waren die Jesuiten in der Regel deutlich fortschrittlicher als die Franziskaner, obwohl (oder gerade weil) die Jesuiten als dogmatische Fanatiker ausgerichtet waren, während die Franziskaner Armut und spirituelles Seelenleben in den Vordergrund stellen. Auch heute noch gelten die Jesuiten als die Bastion der katholischen Linken, während viele Franziskaner Neofaschisten sind. In diesem Sinne lag Brecht also absolut richtig, als er heilige Propaganda-Theaterstücke der Jesuiten für seine kommunistischen Lehrstücke kopierte (oder besser gesagt: “verlagerte”).
Der Zweck dieser Ausführungen ist simpel: Sie sollen die übliche Trennung zwischen Eurozentrismus und postkolonialem Denken verkomplizieren. Was, wenn die beiden in Wirklichkeit untrennbar miteinander verbunden sind? Was, wenn der europäische Einfluss nicht ausschließlich ein Hindernis für die Entkolonialisierung ist, sondern sie sogar fördern kann? Wenn wir von einer postkolonialen Zukunft träumen, ist es wichtig, dass wir solche Widersprüche in Betracht ziehen.
Slavoj Žižek (1949) ist ein Philosoph, politischer Theoretiker und gemäßigt konservativer Kommunist. Er ist internationaler Direktor des Birkbeck Institute of Humanities an der Universität London. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen gehören HEGEL IN A WIRED BRAIN (Bloomsbury Press, London 2020), CHRONICLES OF A TIME LOST (Pandemic 2), Polity Press 2020.
Dieser Essay ist Teil der Sammlung "Zukünfte der Freiheit" des Plansäule der Progressiven Internationale. Um mehr zu erfahren, kontaktiere bitte [email protected]
Gestaltung: Gabriel Silveira